
Der Stier
Figürliche Darstellung des Stiers
(Bild: Kosmos Verlag/Kay Elzner)
In den meisten Darstellungen wird das Sternbild Stier als ein Bulle abgebildet, bei dem wenig mehr als der Kopf zu sehen ist. Wie und warum der Stier halbiert wurde, erklärt Susanne M. Hoffmann in ihrem Buch „Wie der Löwe an den Himmel kam“:
Die Gestalt eines Stiers ist am Himmel in dieser Sterngruppe recht leicht erkennbar. Markant treten zwei offene Sternhaufen hervor: die Hyaden und die Plejaden. Sie werden manchmal als die Säulen eines Tores aufgefasst, durch das Sonne, Mond und Planeten laufen: das Goldene Tor der Ekliptik. Durch das Hinzuziehen weiterer Sterne wird daraus die Figur eines halben Stiers. Das Fehlen des Hinterteils des Stiers erklärt die griechische Mythologie dadurch, dass er gerade schwimmt.
In Wahrheit ist das Tierkreissternbild natürlich – wie alle anderen – aus Mesopotamien übernommen. Ursprünglich ist der Himmelsstier ein Teil des sumerischen Gilgamesch-Epos. Gilgamesch war im dritten Jahrtausend v. Chr. König von Sumer, dem südlichen Teil Mesopotamiens. Unklar ist zwar, wie lange dieser König real lebte und regierte, doch die Königsliste belegt zumindest seine Existenz. Möglich ist, dass dort mehrere Könige gleichen Namens vermischt werden. Die Figur des Gilgamesch in der Literatur steht symbolisch für einige kulturelle Umbrüche bzw. als Kulturstifter. Die bedeutendste Stadt in Sumer war Uruk, dessen Stadtgöttin Inanna/Ischtar war.
Nachdem Gilgamesch mit seinem Freund Enkidu bereits andere Heldentaten vollbracht hatte, kämpften sie in Uruk gemeinsam gegen den von Ischtar gesandten Himmelsstier: Der Stier gehörte Ischtars Vater, dem Himmelsgott Anu, und war mithin eine Gottheit oder ein Fabelwesen. Den beiden Helden gelingt ein Sieg über das Untier, indem Enkidu den Stier von hinten hält und Gilgamesch ihn von vorne packt und zerteilt. Das erklärt das halbierte Sternbild.
Manche Forscher sehen in den mesopotamischen Sternbildern Lohnarbeiter (heute Widder) und Wahrer Himmelshirte (heute Orion) eine Darstellung dieses Stierkampfes von Enkidu (Lohnarbeiter am unsichtbaren Hinterteil des Stiers) und Gilgamesch (Orion). Die Figur des Orion streckt eine Hand Richtung Stierkopf aus und schwingt mit der anderen laut Almagest eine Keule, als wollte sie den Stier zwischen die Hörner schlagen – genauso, wie es auch im Gilgamesch-Epos auf der sechsten Tafel berichtet wird. Zudem ist die Figur des Hirten eine Metapher für Herrschende, die sich für Könige bis in sumerische Zeit zurückverfolgen lässt und bis heute in der Symbolik der christlichen Bischöfe weiterlebt. Als göttlicher Hirte gilt allerdings typischerweise Dumuzi, Ischtars Gemahl, der dem Sternbild Lohnarbeiter zugeordnet wird. Der Zusammenhang der Sternbilder Orion–Taurus–Aries ist also ohne schriftliche Belege sehr spekulativ.

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