ICARUS erhebt sich ins All
Der Mythos des Ikarus ist eine altgriechische Geschichte von Rettung durch Ideenreichtum, Aufstieg und, so menschlich, wie die Griechen ihre Mythen gestalteten, auch von Übermut und Fall.
Ikarus und sein Vater Dädalus wurden von König Minos im Labyrinth des Minotauros gefangen gehalten. Um sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, erfand Dädalus – seinerseits ein begnadeter Techniker – Flügel, die er mit Wachs an einer Halterung befestigte und die er und sein Sohn Ikarus zur Flucht aus ihrer Gefangenschaft nutzen wollten. Nachdem ihr Plan für einige Zeit funktionierte, wurde der junge Ikarus übermütig und schwang sich zu hoch in die Lüfte auf. So kam es, dass die Hitze der Sonne das Wachs zum Schmelzen brachte, sich seine Flügel lösten und Ikarus ins Meer stürzte. Zur Erinnerung nannte der verzweifelte Dädalus die Insel, auf der er seinen Sohn begrub, Ikaria.
Zumindest dem ersten Teil dieser lehrreichen Geschichte entsprang wohl auch die Inspiration für den Namen eines besonderen Projekts: ICARUS – International Cooperation for Animal Research Using Space. Ziel dieser Mission ist es, erstmals die Wanderung diverser Arten von Kleintieren aus dem Weltall zu beobachten und zu analysieren. So ziehen nicht nur jährlich Abermillionen von Zugvögeln von ihren nördlichen Brutgebieten in wärmere Gefilde im Süden und wieder zurück, sondern auch unzählige andere Arten begeben sich im Laufe eines Jahres auf Wanderschaft. Welche genauen Routen und Distanzen diese Tiere dabei jedoch überwinden, konnte bisher nur grob abgeschätzt werden.
Mittels einer neuen Technologie sollen diese Wanderbewegungen nun deutlich genauer unter die Lupe genommen werden: Millimetergroße Sensoren, die an zigtausend Vögeln, Insekten, Fledermäusen etc. angebracht werden sollen und die Tiere nicht beeinflussen, werden die Bewegungen aufzeichnen und speichern (im Bild unten ist lediglich die winzige Antenne zu sehen, die über den Körper des Falters hinausragt). Nachdem bereits im Oktober 2017 ein erster Teil der Ausrüstung auf die ISS (International Space Station) transportiert wurde, folgt nun, im Februar 2018, die zweite Ladung. Bei einem Außenbordeinsatz im Oktober 2018 soll dann die ICARUS-Antenne an der ISS angebracht werden, die die Daten der Sender empfängt: Nachdem die Tier-Sensoren auf der Erde – zunächst im Energiesparmodus – Beschleunigung, Körpertemperatur und GPS-Position der Tiere ermittelt und gespeichert haben, werden die Sender durch einen Timer geweckt. Sobald die ISS in Sendereichweite ist, koppeln sie sich mit der ICARUS-Antenne der ISS und übermitteln beim nächsten Umlauf die gesammelten Daten.
In der sogenannten Movebank – einer Datenbank, in der die Tierbewegungen gesammelt werden – sollen die Daten schließlich für wissenschaftliche Auswertungen zur Verfügung stehen. Nach einem Testbetrieb von zwei Jahren und ersten Messungen an "großen" Tieren wie Amseln, Tauben, Enten und Flughunden sollen ab 2020 dann auch Kleintiere mit Sendern ausgestattet werden. Auch die Antennentechnik soll im Laufe der Zeit so verfeinert werden, dass sie auf anderen Satelliten "Huckepack" fliegen kann. So können das Analysenetz deutlich verfeinert und hochpräzise Erkenntnisse aus der Wanderbewegung gewonnen werden – Erkenntnisse, die für die Menschheit von direktem Nutzen sein werden! Denn neben der genaueren Kenntnis der Lebensweise der Tiere versprechen sich die Wissenschaftler zudem ein besseres Verständnis von der Verbreitung von Seuchen, deren Wirte oftmals im Tierreich zu finden sind. Zudem erhoffen sich die Forscherteams auch, die Auswirkungen des Klimawandels auf z.B. Nahrungssuche oder Brutverhalten zu verstehen. Nicht zuletzt ist eines der Ziele des ICARUS-Projektes, dass die deutlich sensiblere Wahrnehmung der Umwelt durch die Tiere und deren frühzeitige Flucht vor Naturkatastrophen als eine Art Frühwarnsystem vor Erdbeben oder Vulkanausbrüchen für den Menschen dienen könnte. So war der griechische Ikarus nicht nur Namensvetter, sondern gleichermaßen Inspiration und Antrieb für die sorgfältige Planung eines so ehrgeizigen Projektes.
